Menü Schließen

Zwei Fäuste für ein Halleluja – Carillon-Spieler machen Live-Musik auf Glocken

von Michael Grau (Evangelischer Pressedienst Niedersachsen-Bremen – epd)

Carillon-Spielen ist die hohe Kunst des Glockenspiels. Automatik bleibt außen vor. Die Musik wird nur von Hand gemacht und klingt weit in die Umgebung – zur Freude von Passanten und Touristen. Gespielt wird mit den Fäusten.

Hannover, Erfurt (epd).

Bevor es losgeht, schließt Christian Michel erst einmal die Luke, die nach oben zur Glockenstube führt. „Sonst fliegen uns die Ohren weg.“ Dann rutscht er unten im Turm auf die Bank des „Stockenspieltisches“, auf dem Stöcke wie eine Klaviatur aufgereiht sind, ballt die Finger zu Fäusten und beginnt. In atemberaubenden Tempo saust Faust auf Faust auf das Carillon des Henriettenstifts in Hannover. Oben vom Turm herab erschallt eine bewegte Melodie in den umliegenden Park: ein Präludium, per Hand gespielt von 49 Glocken. „Man spürt das Vibrieren der Klänge am ganzen Körper“, schwärmt Michel. „Man schwingt automatisch mit.“

Vor vier Jahren hat Michel (39), im Hauptberuf Bibliothekar, das Carillon für sich entdeckt – eine besondere Art des Glockenspiels. Dabei sind die Glockenklöppel über Drähte, Wellen und Bügel mit großen Tasten eine Etage tiefer verbunden – den „Stöcken“. Carillons werden ausschließlich mit der Hand gespielt und laufen nicht automatisch.

Und nicht jedes Glockenspiel darf sich Carillon nennen. Mindestens 23 Bronzeglocken muss es haben, die aufeinander abgestimmt sind. Und einen mechanischen Spieltisch. „Der Standard sind heute 49 Glocken über vier Oktaven“, erläutert Michel. Das größte europäische Carillon im „Roten Turm“ in Halle an der Saale hat sogar 76 Glocken und kommt auf ein Gesamtgewicht von 55 Tonnen. Damit sind Carillons sicherlich die schwersten Instrumente der Welt.

In ganz Deutschland gibt es derzeit 48 Carillons in Kirchen, Rathäusern, Türmen oder Parks, vor allem im Südwesten und in Thüringen. Und rund 60 ehrenamtliche Carilloneure, die sie spielen können. „Wir sind ein illustrer Kreis von Enthusiasten“, sagt Ulrich Seidel aus Erfurt, Vorsitzender der Deutschen Glockenspielvereinigung und Carilloneur im Erfurter Bartholomäusturm. Die „Klangfülle dieses Instruments“ begeistert ihn seit vielen Jahren. „Man kann alles darauf spielen, was komponiert wurde und was noch komponiert werden wird.“ Sogar ein Stück der Rockband AC/DC habe er schon auf dem Carillon gehört.

Christian Michel in Hannover ist eher klassisch orientiert. Er spielt Stücke von Bach oder Rachmaninow, die für Carillon arrangiert wurden, Kirchenlieder oder gezielte Kompositionen für das Carillon. „Man muss sich erst einmal daran gewöhnen, dass man nicht mit den Fingern spielt, sondern mit den Fäusten.“ Michel spielt schon seit Schulzeiten Orgel und kam über Freunde zum Carillon. „Das hat mich so gepackt, dass ich beschlossen habe, das muss ich gleich in die Tat umsetzen.“

Michel hatte Glück: Im Henriettenstift in Hannover fand er ein Instrument in seiner Nähe. Die Leitung des evangelischen Krankenhauses war Ende der 1950er Jahre begeistert von einem Besuch in den Niederlanden zurückgekehrt und hatte beschlossen, ein Carillon anzuschaffen.

Flandern im benachbarten Belgien ist die Heimat des Carillons. Dort stellten die Glockengießer bereits Anfang des 16. Jahrhunderts aufeinander abgestimmte Glocken her und bauten sie in die Stadttürme ein. Allein in den Niederlanden gibt es 180 Carillons, dazu viele andere Glockenspiele. „In Amsterdam hört man sie an jeder Ecke“, erzählt Michel. 672 Carillons gibt es weltweit, davon 474 in Europa.

In Hannover wurde das Carillon Teil einer Kirche. Als das Henriettenstift seine im Krieg zerstörte Mutterhauskirche neu aufbaute, errichtete die Klinikleitung 1960 einen separaten Turm und stattete ihn mit dem Glockenspiel aus. Das Instrument, eines von dreien in Niedersachsen, erklingt seither täglich eine Viertelstunde lang, um Patienten, Besucher und Mitarbeitende zu erfreuen.

Christian Michel spielt hier jeden Donnerstag. Im Selbststudium und durch Unterricht hat er sich die Technik angeeignet. Zurzeit durchläuft er eine Ausbildung am Niederländischen Carillonzentrum in Amersfoort. „Ohne Unterricht geht es nicht“, betont er. „Man muss die Stöcke drücken, nicht schlagen.“ Das bringe Kontrolle und sei besser für den Klang. Und besser für die Hände: „Was meinen Sie, wie Ihre Finger sonst hinterher aussehen?“ Besonders wichtig: Nicht zu viele Glocken auf einmal anschlagen, damit die großen Glocken die kleinen nicht übertönen.

Wenn das Carillon erklingt, schauen manche Patienten aus den Fenstern, und manchmal kommen auch Besucher in Michels „Spielerkabine“ im Turm. Die Tür steht immer offen. „Viele sind erstaunt und wissen gar nicht, was ein Carillon ist.“ Am besten lasse sich der Klang draußen im Park zwischen den Bäumen genießen, sagt Michel. Denn drinnen im Turm stört das Rattern und Klappern der Stöcke.

Der Verbandsvorsitzende Ulrich Seidel wünscht sich für die Zukunft vor allem mehr Carillon-Nachwuchs, damit der eingeschworene Kreis der Carilloneure größer wird. Und mehr Instrumente. „Wenn Sie ein ordentliches Carillon haben wollen, müssen Sie mit mehreren Hunderttausend Euro rechnen“, sagt er. „Ein Carillon ist wirklich ein Luxus, aber wenn man eines hat, ist das sehr schön.“ Seidel hofft auf zahlungskräftige Stifter. Und auf den Tourismus: „Für einen Ort ist so ein Carillon auf jeden Fall ein Alleinstellungsmerkmal.“